Münster (Waxmann Verlag) 2000
Bibliodrama, szenische Interpretation und pädagogisches Rollenspiel können nur unzureichend erklären, warum manche literarischen Texte im Spiel in der Gruppe funktionieren und andere nicht. Hier kann der Begriff der Leerstelle Orientierung sein und somit eine wertvolle Hilfe bei der Textauswahl liefern.
Martin Lensch legt mit diesem Buch eine spannende interdisziplinäre Studie zwischen Literaturtheorie, pädagogischer Praxis und empirischer Sozialforschung vor, deren Ausgangspunkt die Annahme der Rezeptionsästhetik bildet, daß das Wirkungspotential literarischer Texte in ihren Leerstellen und Unbestimmtheiten liegt. Von besonderem Wert für die praktische Anwendung sind ein Tableau mit Leerstellentypen und die Geschichte vom Wolf, der mit dem jüngsten Geißlein eine Räuberbande gründet.
2000, IHS, Bd. 328, 200 Seiten, br., 19,50 EUR, ISBN 3-89325-866-3
Auszug: Vom Eigenleben einer Leerstelle
Die Geschichte vom Wolf, der mit dem jüngsten Geißlein eine Räuberbande gründet
Doch zum guten Schluß möchte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, die Sie mir bis hierhin gefolgt sind - oder aber alles übersprungen haben und gleich am Ende nachgucken, wie es ausgeht - noch eine Geschichte erzählen, eine Geschichte vom Scheitern des literarischen Rollenspiels, gleichzeitig gedacht als kleine Warnung an alle, die meinen, es sei ganz ohne Risiko, ein solches Spiel anzuregen. Bisher habe ich Ihnen nur von Gelingen erzählt, habe Ihnen Theorien, Methoden und Interpretationen dargeboten, die dieses Gelingen gewährleisten sollen. Doch was geschieht unter unseren Händen in der rauhen Wirklichkeit? Eher eine Geschichte von der immerwährenden Pleite aller menschliche Pläne, vom restlosen Fiasko der Vernunft, und auch von der Niederlage derer, die glauben, Geschichten müßten mit befriedigenden Erklärungen enden.
Ich saß also wieder mal zusammen mit der Gruppe von sehr interessierten Pädagogen, Sozialarbeitern, Erziehern und Studenten auf der Suche nach leibhaftigen Erfahrungen. Diejenigen, die dabei waren, werden sich erinnern. Diejenigen, die dabei waren und sich ganz anders erinnern, möchte ich milde stimmen mit dem Hinweis: Man soll eine gute Geschichte nicht allzusehr durch die Wahrheit verderben.
Wir hatten einen Text gelesen: "Der Wolf und die sieben Geißlein", Sie kennen den ja. Die Rollen waren verteilt, die Spielorte eingerichtet: das Haus der Familie Geiß, der Wald, in dem der Wolf hauste, und die Einrichtungen von Krämer, Bäcker und Müller. Die Mutter Geiß - natürlich die Spielerin der Mutter - hatte das Heim verlassen, um Nahrung zu beschaffen, und die sieben Geißlein - die Spieler - trugen ihre geschwisterlichen Konflikte aus, so wie es immer ist, wenn diese Geschichte gespielt wird. Wir haben es ja mit einer temporalen Leerstelle und mit unbenannten sozialen Beziehungen zu tun. Und auch darauf können wir uns verlassen: Die älteren sorgten für Ordnung, die jüngeren für Chaos, bis dann endlich der Wolf - richtiger: der Spieler des Wolfs - sich dem Haus näherte; die Geißlein gerieten in noch größeren Aufruhr, doch der Wolf ging nicht zur Tür und sagte nicht mit tiefer Stimme: Liebe Kinder, laß mich ein, ich bin eure Mutter, und ich habe euch etwas mitgebracht! Nein, der Wolf - natürlich der Spieler des Wolfs, aber was hatte der sich bloß gedacht? Wie hatte der denn die Leerstelle gefüllt oder war ihm nicht genug Leerstelle für seine Figur vorhanden?
Iser hatte uns ja gewarnt: Ist der Leerstellenbetrag zu niedrig, besteht die Gefahr, daß die Leser sich langweilen (Iser 1993a, S. 236) - unser Wolfsspieler also schlich zum Fenster - selbstverständlich war kein Fenster vorhanden, wir sind ja in einem Seminarraum, und veranstalten ein Rollenspiel - schlich also zum Fenster und sprach mit tiefer Stimme: Ihr lieben kleinen Geißlein, ich bin euer Vater, laßt mich ein, ich habe euch so lange nicht gesehen, eure Mutter läßt mich nicht zu euch, aber jetzt ist sie weg, und wir können uns herzen! Da war die Aufregung unbeschreibbar. Vater? Haben wir uns in der Geschichte geirrt, oder sind wir auf eine neue Leerstelle gestoßen? - na klar: sieben Geißlein fallen ja nicht vom Himmel, sie müssen auch einen Vater haben, und wir haben es bei der Geiß mit einer alleinerziehenden Mutter zu tun. - Glaubt ihm nicht, das ist der Wolf, das hört man an der Stimme. - Aber Väter haben tiefe Stimme, das weiß ich aus der Schule. - Aber Väter haben keine schwarzen Füße. - Doch, haben sie wohl, wenn sie arbeiten. - Ich laß ihn rein. - Du bleibst hier, sonst sind wir alle tot. - Ich will zu meinem Vater! - Wir haben keinen Vater! - Jedes Kind hat einen Vater! - Aber nicht in dieser Geschichte! - Ob sich damit das Spiel retten läßt?
Jedenfalls, um nicht den Faden zu verlieren, sprang das jüngste Geißlein, das, was eigentlich in den Uhrenkasten soll - vielleicht hat es das größte Vertrauen in ein gutes Ende, denn es kommt ja auf jeden Fall mit dem Leben davon - sprang also aus dem Fenster und dem Wolf in die Arme.
Wenn Sie jetzt auf die Pointe warten, dann kann ich Ihrem Wunsch nicht so ohne weiteres nachkommen: Es kommt nämlich noch was! Der Geißleinspieler und der Wolfs- oder Vaterspieler - wir sind ja in einen Spiel, Sie erinnern sich - lagen also auf dem Boden - Teppichboden - des Seminarraums, fielen sich in Arme und beschlossen eine Räuberbande zu bilden. Der Wolf oder Vater erzählte vom Leben in Freiheit, wo man alles kriegen kann, was man will, man muß es sich nur nehmen, und das kleine Geißlein fand das große Klasse; und so machten die beiden sich auf den Weg zum Laden des Krämers, um diese Lebensphilosophie zu erproben.
Inzwischen war völlige Stille im Seminarraum eingekehrt, und alle anderen beobachteten gebannt, wie es wohl weitergehen würden. Was glauben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, wie geht wohl weiter? Ich bin sicher, sie liegen daneben. Ich hätte das auch nicht für möglich gehalten. Sicher, Iser hatte uns vor der wirkungsmächtigen Kraft der Leerstelle gewarnt: Räumt eine Geschichte mittels ihres Leerstellenbetrags die Chance des sinnkonstituierenden Mitvollzugs ein, so wird der Leser die von ihm komponierte Intention nicht nur für wahrscheinlich, sondern für real halten. (ebd.) Ich wiederhole: für real halten!
Jedenfalls hatten die beiden eine Räuberbande gegründet, gingen zum Krämer und verlangten die leckersten Dinge; die beiden übertrafen sich gegenseitig mit Forderungen, und als der Krämer - der Spieler des Krämers, wohlgemerkt - nicht darauf eingehen wollte, schnappten sie kurzerhand seinen Rucksack, der ja wie andere Rucksäcke, Taschen, Jacken und Mäntel im Seminarraum lag, leerten ihn aus und füllten die bedeutenderen Dinge, wie Nahrungsmittel und Wertsachen wieder hinein. Den Protest des Krämerspielers beantwortete der Wolf mit einem furchteinflößenden, grimmigen Knurren, was den Krämer erst einmal stillhalten ließ. Nun gingen die beiden Räuber - soll ich wirklich noch sagen: Räuberspieler, Sie ahnen ja vielleicht, wie es weitergeht - gingen sie also von Mantel zu Mantel, von Jacke zu Jacke, von Tasche zu Tasche und räumten alles, was Ihnen nützlich und wertvoll erschien aus und steckten es in den Rucksack des Krämerspielers. Zwar verlief das nicht ganz ohne Protest, aber was schert einen Wolf schon der Einspruch eines Geißleins, und das jüngste half ja nach Kräften mit, und so konnte man das Ganze für ein gelungene Spiel halten, welches für die spätere Reflexionsphase einigen interessanten Gesprächsstoff enthalten würde, wenn, ja wenn das Spiel hier zu Ende gewesen wäre. Denn - Iser hatte uns ja gewarnt - wir sind im allgemeinen geneigt, das von uns Gemachte als wirklich zu empfinden (ebd.). Die beiden Räuber - spielten sie eigentlich noch? - gingen aber zur Tür - des Seminarraums, wohlgemerkt - machten sie auf, gingen hindurch und machen sie wieder zu. Und weg waren sie. Ja, und weiter?
Manchmal ist eine Geschichte an einer solchen Stelle zu Ende. Aber manchmal auch nicht. Die Spannung entsteht jedenfalls nicht durch Geschwindigkeit, und hier ist Geduld von Nöten. Die beiden Räuber kamen nämlich nicht wieder. Wir befanden uns auf einem Wochenendseminar in einer Bildungsstätte auf dem Land, mit Übernachtung, es was Sonnabend nachmittag, und das Seminar ging bis zum Mittag des folgenden Tages.
Die beiden Spieler kamen am Ende dann doch wieder, wenn auch erst am Sonntag zum Mittagessen, und jeder Seminarteilnehmer erhielt sein Eigentum zurück bis auf ein paar Kekse und solche Sachen. Was in der Zwischenzeit geschah? Naja, das kennen Sie ja jetzt, das ist die Leerstelle dieser Geschichte.
Hamburg (Windmühle Verlag) 1996, 386 Seiten, DM 59,-
Rezension:
Um es gleich vorweg zu sagen: Dem Autorenteam um Inge Brenner ist ein
großer Wurf gelungen. Es ist meines Wissens das erste Buch, in dessen Titel
die Methodenbezeichnung "Pädagogisches Rollenspiel" auftaucht, und es ist
das erste Buch, bei dem in einer Kombination von Lehrbuch und Bildungsroman
Inhalt und Form übereinstimmen. Auch wenn es sich bei den Autoren in erster
Linie um Psychodramatiker handelt, haben sie im Rahmen einer unternehmensinternen
Weiterbildungsmaßnahme für Bildungsleute bewußt den Begriff "Pädagogisches
Rollenspiel" eingeführt. Der Windmühle Verlag scheint von dessen Werbewirksamkeit
noch nicht so recht überzeugt zu sein, hebt er doch auf dem Buchdeckel graphisch
DAS SPIEL hervor und bringt so den Begriff "Spiel" in den Mittelpunkt, obwohl
es sich bei dem im Buch dargestellten Verfahren eindeutig um das "Pädagogische
Rollenspiel" als einer "Variante des Psychodramas" handelt.
H. Weber, einer der Autoren, formuliert die allen Rollenspielanwendern wohlbekannte Erfahrung, "daß das Pädagogische Rollenspiel sehr schwer zu erklären ist. Man muß es erlebt haben. Wie kann man aber für etwas werben, was man gar nicht erklären kann?" Die Antwort, die das Autorenteam gibt, ist so einfach wie genial: Sie besteht in der Idee, "mit Hilfe der Methode Pädagogisches Rollenspiel ein Buch zu 'erspielen', d.h. es als Methode zu nutzen (Subjektseite), um seine Inhalte (Objektseite) zu vermitteln."
Dazu wurde ein Seminar mit dem Titel "Konflikte im Führungsalltag" konstruiert, um am Verlauf des erdachten Seminars die unterschiedlichen Methoden des Pädagogischen Rollenspiels abzubilden. Die Autoren erfanden zehn "typische" Führungskräfte der unteren Führungsebene und ein Leitungsteam - und verteilten die Rollen untereinander. Sie wählten typische Protagonistenanliegen aus der Praxis von Rollenspielseminaren und typische Gruppenkonflikte in Seminarverläufen, um sie zu spielen und auf Tonband aufzunehmen. Diese Konstruktion ist in der Darstellung so lebendig geworden, daß sogar der Verlag in seinem Neuheiten-Info der "Täuschung" aufsitzt und das Buch als den "Live (!) -Mitschnitt eines tatsächlich (!) stattgefundenen Seminars" ankündigt.
Das Buch besteht im wesentlichen aus dem überarbeiteten "Live"-Mitschnitt dieses fiktiven Seminars einschließlich der Pausenreflexion der beiden Leiter. Dazwischengeschoben sind Theorieblöcke, in denen in einer Art Methodenlehre Techniken und Spielhilfen des Pädagogischen Rollenspiels dargestellt sowie der Gruppenprozeß und die Leiterinterventionen erläutert werden. Dabei sind recht griffige Kommentare entstanden: "Viele Worte führen weg vom Problem." oder "Widerstand gehört zum Seminar wie das Wetter zum Tag." Ein Zeitplan am Anfang des Buches, die insgesamt lineare Gliederung und eine Prozeßleiste am Seitenrand erleichtern es, den Überblick über den ganzen Seminarprozeß zu behalten, sich genußvoll in die einzelnen Abschnitte zu versenken, in Erinnerungen an selbst erlebte Seminare zu schwelgen und sich jede Menge Anregungen für die eigene Praxis zu holen. Hier lassen sich zwei Rollenspielleiter wirklich über die Schulter schauen - kompetent in ihrem Leitungsverhalten und in ihren Reflexionen, sympathisch und aufschlußreich bei ihren Fehlern.
Indem sie den ganzen Prozeß dokumentieren, zeigen die Autoren die Bedeutung der Gruppe für das Pädagogische Rollenspiel. Mit dem Modell des typischen Ablaufs wird ein Grundstein gelegt für die weitere Diskussion zum Thema: Rollenspiel als Gruppenverfahren. Darüber hinaus wird anschaulich vorgeführt, wie sich Rollenspiel mit anderen Verfahren kombinieren läßt: mit systemischer Therapie und mit der Moderationsmethode.
Was ist zu kritisieren? Daß die Autoren trotz der Entwicklung, die das Pädagogische Rollenspiel als eigenständiges Verfahren genommen hat, methodisch noch sehr dem Psychodrama verpflichtet sind (Beispiele: die obligatorische Ich-Programmierung der Zuspieler und die Praxis des Doppelns aus der Gruppe heraus).
Dennoch: Hier ist ein Buch entstanden, das dem Bedürfnis vieler Rollenspielanwender nach einer lesbaren Methodenlehre entgegenkommt und dem trotz des etwas ungemütlichen Preises weite Verbreitung bei Lernenden, Anwendern und Ausbildern/Lehrtrainern des Pädagogischen Rollenspiels zu wünschen ist. Sehr empfehlenswert!
Martin Lensch
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