Martin Lensch:

Mit der Zeit spielen

Zum Unterschied von pädagogischem und psychodramatischem Rollenspiel

Will man über den Aspekt der Zeit im "Pädagogischen Rollenspiel" sprechen, also über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so kann man sich das Rollenspiel als auf einer Zeitleiste angeordnet vorstellen: Der Gedanke der Nützlichkeit des Rollenspiels ist auf die Zukunft gerichtet. Lebendigkeit, Vitalität und Spannung beziehen sich auf die unmittelbare Gegenwart. Und wenn man von der Übertragung Konflikt behafteter Situationen spricht, denkt man an die Vergangenheit. Das Rollenspiel selbst findet zwar in der Gegenwart statt, die Kräfte jedoch, die sich im Spiel entfalten, stammen aus der Vergangenheit und sind als Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns auf die Zukunft gerichtet.

Die Nützlichkeit des Rollenspiels

Wozu spielen wir? Das Spiel, so eine hergebrachte Ansicht, entfernt uns aus der etablierten Wirklichkeit und verführt uns in den Raum nutzloser Tändelei. Allenfalls Kindern wird noch zugestanden, ihre Zeit im Spiel zu vertun. Aber selbst da meldet sich das Gewissen der Erziehenden und zeigt, dass das nutzlose Spiel durchaus einen Nutzen haben kann, hält es doch eine Fülle von Lernmöglichkeiten bereit. Pädagogisch wertvoll! lautet der Freigabestempel.

In der Auseinandersetzung um die pädagogische Indienstnahme des Spiels wurden häufig Rollenspiele nach ihrem Nützlichkeitswert beurteilt, konzipiert und in pädagogischen Zusammenhängen Ziel orientiert eingesetzt. Im Gegensatz zu diesem "gemeinen" Rollenspiel, wie es von unkundigen Anwendern mit schwankendem Erfolg praktiziert wird, steht die Vorstellung von einer generellen und unspezifischen Nützlichkeit im "Pädagogischen Rollenspiel", wie sie in allen drei Formen, den Protagonistenspielen, den Gesamtgruppen- und den Literaturspielen zum Ausdruck kommt.

Die Frage nach der Nützlichkeit des Spiels für die Zukunft des Spielenden berührt einen zentralen Punkt des Pädagogischen Rollenspiels: Inwieweit dürfen die Leiter Ziele für die Protagonisten festlegen? Was legitimiert diese Zielvorstellung? Wie verbindlich müssen diese Ziele sein? Wie offen müssen die Leiter für das sein, was von den Hauptspielern als Wunsch und Interesse geäußert wird? Ist doch eine wesentliche Voraussetzung für Gelingen des Spiels die freie Entscheidung der Spielenden, was sie spielen, wie sie spielen und wie lange sie spielen.

Während im "gemeinen" Rollenspiel die normative Vorstellung vorherrscht, die Spielenden zur Übernahme "richtiger" Wirklichkeitsauffassungen zu bewegen, die Welt "richtig" zu sehen und sich in ihr "richtig" zu verhalten, lebt das "Pädagogische Rollenspiel" von einer anderen Idee: Im Rollenspiel erscheint eine Wirklichkeit, die sich von der ernsthaften, festgelegten Wirklichkeit und ihrem hohen Verbindlichkeitscharakter abhebt - eine andere Wirklichkeit mit anderen Funktionen und Wirkungen: unverbindlicher, offener und freier.

Diese andere Wirklichkeit, "lebendige Hüllschicht" (J. Fritz) um den harten Wirklichkeitskern, bildet zunächst nur ein Reservoir an locker gefügten Potentialitäten, die realisiert werden können: Wirklichkeitsauffassungen, Wertvorstellungen, Handlungsbereitschaften. Indem man Rollen spielt, lernt man nicht in erster Linie für die "ernsthafte" Wirklichkeit, sondern vergrößert seinen Raum an Möglichkeiten: Man spielt nicht, was sein soll, sondern was alles sein kann. All diese Möglichkeiten entstehen aus der Verbindung des eigenen seelischen Erlebens und den Einflüssen aus der Umwelt — mal stärker von der Innenwelt, mal stärker von der Außenwelt bestimmt.

Die Möglichkeiten leben zunächst nur im Spielraum. Dort keimen sie auf, wachsen und verwandeln sich. Sie sind lebendiges Potential des Menschen, um mit den Lebensbedingungen klar zu kommen und auf Veränderungen angemessen reagieren zu können. Ob und wann die Möglichkeiten in den Wirklichkeitsbestand überwechseln, hängt von bestimmten Bedingungen ab: Es müssen sich Transferanlässe bieten, die die Spielenden veranlassen, die im Spiel erworbenen Handlungsweisen auf die Wirklichkeitsebene zu übertragen. Erst wenn sich damit Erfolge im Sinne von veränderten Erfahrungen erzielen lassen, siedeln sie sich als zusätzliche abrufbare Handlungsmuster in der Realitätsstruktur des Spielenden an oder führen zu Umstrukturierung bestehender Muster.

Auf die Frage: Wozu spielen wir? Was nützt das Rollenspiel dem Spielenden in der Zukunft? können wir antworten: Das pädagogische Rollenspiel steht an der Pforte zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Rollenspiele stellen Möglichkeiten bereit, deren Wirksamkeit nicht nur vom Spiel und Spielprozess abhängig sind, sondern auch von äußeren Bedingungen der Spielenden. Das Spiel ist in dem Maße nützlich, als es einschränkende Handlungsmuster der Spielenden aufweicht und ihren Handlungsspielraum vergrößert.

Die Übertragung Konflikt behafteter Situationen im Rollenspiel

Die durch das Rollenspiel erzeugten Möglichkeiten haben nicht nur eine Bedeutung für die äußere Welt, sie sind zugleich auch Möglichkeiten zur Regulation des psychischen Innenraums. Indem die Spielenden im Spiel Belastendes aus der individuellen Vergangenheit verarbeiten und integrieren, gewinnen sie die innere Freiheit, die zu ihrer Entfaltung notwendig ist. Im Spiel wird die Schutzkruste aufgeweicht, die die Menschen immer dichter und undurchlässiger gegen überraschende und unliebsame äußere Einflüsse aufbauen. Und es wird die Fähigkeit gestärkt, neue und flexiblere Wirklichkeitsvorstellungen und Handlungsmuster wachsen zu lassen.

Die psychoanalytische Betrachtungsweise, dass vergangene, Konflikt behaftete Erlebnisse aus der Lebensgeschichte des Menschen im Spiel generell aufscheinen, hat sich für das psychodramatische Rollenspiel als sehr fruchtbar erwiesen. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass der seelische Organismus die Reize der Außenwelt nur bis zu einer bestimmten Stärke aufnehmen und assimilieren kann. Ist der Außenreiz zu stark und mächtig oder tritt er zu überraschend auf, ist die Seele überfordert und behilft sich mit den Wiederholungen. Das traumatische Ereignis taucht in neuer Gestalt wieder auf und der Mensch steht unter dem Zwang, eine von ihm nicht verarbeitete Situation immer neu inszenieren zu müssen.

Im psychodramatischen Rollenspiel wird das Erlebnis durch Neuinszenierungen so erinnert und durchgearbeitet, dass es vom Protagonisten integriert werden kann. Indem die Protagonisten eines Rollenspiels eine passiv erduldete Situation mit Hilfe des Leiter und der Gruppe in einem Spiel neu in Szene setzen, schaffen sie einen Übergang von der Passivität zur Aktivität. Dies wird noch verstärkt, wenn sie die Rolle, die sie in der Wirklichkeit hatten, im Spiel gegen eine andere aktivere vertauschen. Das Einnehmen dieser aktiven Rolle erleichtert den Integrationsvorgang, es schafft seelische Distanz zum schmerzvollen Erlebnis.

Die Lebendigkeit des Rollenspiels

Wie steht’s mit dem Hier-und-Jetzt? Damit das Rollenspiel in der Gegenwart lebendig, lustvoll und spannend bleibt, darf es weder in die Abhängigkeit eines zukünftigen Nutzens noch in die Fesseln traumatischer Ereignisse geraten. Die Motivation der Spielenden kann nur aus der Gegenwart heraus verstanden werden. Spiel ist Ausdruck von Lebenskraft und Lebensfreude. Die Befriedigung des Moments ohne Rücksicht auf die Zukunft gehört zum Wesen des Spiels.

Wenn ein Spiel vorbei ist, berichten die Spielenden häufig, dass sie Freude daran hatten, dass sie mit dem ganzen Herzen dabei waren. Kommt diese Freude am Spiel zu kurz, gerät das Pädagogische Rollenspiel in eine Schraubzwinge zwischen therapeutischen und trainierenden Intentionen, verliert seine vitale Kraft und verwandelt sich in eine weitere der im Leben immer wiederkehrenden Routinen. Die Wirkkraft des Rollenspiels liegt aber gerade in der Unterbrechung des Alltags. Andere Möglichkeiten der Wirklichkeit klingen an und erlauben es, sich anders als sonst zu erfahren: ganz dabei, ungeteilt, lebendig.

Warum ist es gerade im pädagogischen Rollenspiel möglich, dieses Gefühl zu erfahren? Im Gegensatz zur Alltagsroutine erfüllt das Spiel ein Spannungsbedürfnis des Menschen. Angenehm, unterhaltsam, ja lustvoll erregend ist diese Spannung dann, wenn sie weder zu stark und bedrohlich noch zu schwach und langweilig erlebt wird, wenn das emotionale Erleben um einen mittleren Spannungspunkt pendelt, gleich weit entfernt von matter Langeweile einerseits und überwältigendem Affekt andererseits. Zudem muss die Spannung zeitlich begrenzt sein, in einen Spannungsabfall münden, der Entspannung und Erleichterung bringt. Das gelingt am besten, wenn ein Rollenspiel von seiner Struktur her so beschaffen ist, dass vier Bedingungen erfüllt sind: Das Spiel muss die Neugierde ansprechen, Überraschungen bieten, Problemlösungsverhalten herausfordern oder Momente von Ungewissheit und Risiko enthalten.

Platzende Knoten und lange Leitungen

Im "Pädagogischen Rollenspiel" gelingt es mit der Integration von Nützlichkeit, Aufarbeitung des Verdrängten und Lebendigkeit, von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart dem quantitativen Zeitbegriff einen qualitativen gegenüberzustellen: Verdichtung lebensgeschichtlicher Entwicklungsstufen, Reife und Regression, Spannung und Entspannung, Erinnerung und Erwartung, platzende Knoten und lange Leitungen. Für die Bildungs- und Entwicklungsprozesse, zu denen das Pädagogische Rollenspiel anregt, gilt das, was Rousseau von der Kindererziehung sagt: Dass es in ihr weniger darauf ankomme, Zeit zu gewinnen, als Zeit zu verlieren.

Literatur:

  • Jürgen Fritz: Theorie und Pädagogik des Spiels
    Weinheim und München (Juventa) 1991
  • Karlheinz A. Geißler: Zeit leben. Vom Hasten und Rasten, Arbeiten und Lernen, Leben und Sterben
    Weinheim und Berlin (Quadriga) 1987
  • ders.: Über die Illusion, die Zeit managen zu können
    in: pädextra 5/1993

 

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